Donnerstag, 18. Februar 2010

Montage.

Was zur Hölle glotzt sie mich so an?
Mit ihren platinblond gefärbten Haaren, ihrem pinken Mantel und ihren 10 kg Make up sieht sie ja auch nicht gerade besser aus als ich in meinem morgendlichen Moorleichen-Look.
Und die Oma da, die schaut genauso. Ich höre Musik, na und? So gehört sich das nämlich, wenn man jeden Morgen mit einer Horde gaffender Leute Zug fährt, so wie ich.
Oder hab ich 'nen Keks auf dem Kopf?
Sehe ich heute besonders verpennt aus? Muss man ernsthaft Angst haben, dass ich eine Leiche bin, die aus dem Totenreich wieder auferstanden ist?
Ich werfe einen verstohlenen Blick in das Zugfenster, das mein bezauberndes Antlitz reflektiert, weil es draußen noch dunkel ist.
Augenringe, bekräftigt durch meinen schwarzen Kajal ums Auge. Passt. Blass, um nicht zu sagen, totenbleich, und aufgedunsen. Jawohl.
Matschverschmierte Stiefel (höchstwahrscheinlich von dem Grab, aus dem ich gekrochen bin). Check. Ich habe eindeutig etwas Leichenmäßiges an mir. Aber so sehe ich eigentlich immer aus, so früh morgens. Die Leute sollten sich inzwischen daran gewöhnt haben.
Warum scheint das anderen Leuten eigentlich nicht so zu gehen? Sie sehen morgens aus wie abends, sie schauen höchstens etwas müde aus der Wäsche, morgens, weil sie noch müde sind, und abends, weil sie wieder müde sind von der Arbeit oder der Schule oder wo auch immer die Reise hingeht.
Aber blass und Augenringe? - Fehlanzeige.
Oder stimmt es, dass man diese ganzen Sachen wie Pickel, fahle Haut, fettige Haare, (Liste unendlich erweiterbar) - an sich selbst besonders stark sieht?

Nein, ich glaube immer noch daran, dass andere Menschen morgens mindestens (!!) eine Stunde im Bad verbringen, bevor sie das Haus verlassen, was ich von mir nicht behaupten kann.

Bei mir läuft das so:
Sobald mein Wecker klingelt, bekommt er erst mal einen Guten-Morgen-Gruß von meiner Faust zu spüren. Hab ich den richtigen Knopf, die Schlummerfunktion, getroffen, besteht eine etwa dreißigprozentige Chance, dass ich mich beim nächsten Klingeln zehn Minuten später fluchend aus dem Bett wälze und mich ins Badezimmer schleppe.
Häufiger aber bleibe ich bis 15 Minuten bevor der Zug kommt im Bett liegen, um dann wie von der höllischen Tarantel gestochen aus den Federn zu springen, mich in meine Wäsche, meine immer gleiche Jeans und einen wahllos aus dem Schrank gezerrten Pulli zu schmeißen. Im Bad bekomme ich vor dem Spiegel erst mal den Schock fürs Leben, wenn ich sehe, dass es wohl keine tolle Idee war, mit nassen Haaren ins Bett zu gehen, da sie jetzt in alle Richtungen abstehen.
Die Zahnbürste im Mund, schmiere ich mir versehentlich die Wimperntusche über meine halben Augenlider, um gleich darauf ein Todesgefecht mit meiner Haarbürste auszutragen, weil meine Haare einfach ihre über die Nacht eingenommene Position nicht aufgeben wollen. Ich versuche mich darüber hinwegzutrösten, indem ich mir denke, "the Grudge". Einfach so tun als gehört es so, dann ist sogar das hier cool!

Die schwarzumrandeten Augen meines Spiegelbilds schauen mich skeptisch an, als wollten sie sagen: „Das glaubst du doch selber nicht!“, während ich mir, die Haarnadeln zwischen den Zähnen einklemmend, die Haare zusammenbinde.
In der Küche stürze ich einen Schluck kalten Schwarztees von gestern runter, zum Frühstücken ist es natürlich zu spät, ich verfluche meine 14-Loch Original Doctor Marten‘s Stahlkappen, weil sie zum Schnüren eine Zeit in Anspruch nehmen, in der ich mir locker noch eine Portion Vanillepudding aus dem Kühlschrank hätte genehmigen können, damit ich wenigstens etwas im Magen habe.
Aber lieber Stahlkappen als Pudding. Ohne meine Lieblinge gehe ich gar nicht erst aus dem Haus. Ich schultere schnell meinen Rucksack, renne noch mal in mein Zimmer, weil ich meine Kopfhörer vergessen habe, und stürme los, um den Zug noch zu erwischen.

Und jetzt sitze ich hier. Wie fast jeden Morgen.
Immer wieder wundere ich mich, wie viele Leute außer mir mit dem Zug um sieben fahren und vor allem wie frisch sie dabei aussehen.
Wenn ich ankomme bin ich für elf Stunden ein anderer Mensch.
Komischerweise schielt mich keiner dumm an wie hier im Zug. Gut, den meisten unserer Kunden ist es egal ob ich Augenringe habe oder nicht, weil sie sowieso nichts sehen außer Papierkram. Aber auch meine Kollegen haben nicht diesen Blick, diesen seltsamen musternden missbilligenden Morgens-im-Zug-Blick.
Was ist los mit diesen Leuten im Zug?
Haben sie alle einen Sehfehler? Schielen sie? Oder bin ich paranoid und egomanisch veranlagt, dass ich denke, dass mich alle anstarren?
Ich werfe der Oma einen finsteren Blick zu, nach dem Motto: Gleiches mit Gleichem vergelten. Dann ziehe ich meine Mütze tiefer in die Stirn und drehe lauter, wobei es mir egal ist, dass die Leute bald sogar schon den Text mithören können.
In der Hoffnung auf ein Ende dieses Wahnsinns frage ich mich, wann endlich Wochenende ist.
Da geht mir ein Licht auf.

Ich weiß, warum ich besonders blass bin, warum ich fast den Zug verpasst habe, warum die Leute mich anstarren, ich weiß ALLES.
Das gesamte Universum folgt heute anderen Regeln, und das aus einem einzigen Grund:

Es ist Montag. Montage sind keine Tage wie alle anderen. Montags ist alles doppelt so schlimm. Montags werden die meisten Leute krankgeschrieben, die meisten Selbstmorde begangen, die meisten Kriege angezettelt.
Oh Gott, es ist Montag. Ich in so müde, dass ich sogar das vergessen habe.Oder aber dieser Fakt wurde von meinen donnerlauten Sennheiser HD 435-Kopfhörern aus meinem Hirn gepustet.

Montage sind die Tage, an denen ich als Kind morgens ein Thermometer an die Kerzenflamme gehalten habe, um meiner Mutter daraufhin das Gerät unter die Nase zu halten und zu verkünden, ich könne nicht zur Schule mit 52 Grad Fieber.
Oder an denen ich in meiner Ausbildungszeit um fünf Uhr morgens vom Wecker geweckt wurde, diesen ausgeschaltet habe und mit dem Gedanken ‚Nur noch fünf Minuten!‘ geradewegs nochmals eingeschlummert bin. Um mittags um 12 wieder aufzuwachen. Montage sind die Tage, an denen man als Urmensch wieder von Null anfängt.
Vielleicht sind sie deshalb so anstrengend, weil man an nur einem Vormittag die gesamte Evolutionsgeschichte durchmachen muss.

Morgens beim ersten Klogang noch der Orang-Utan mit auf dem Boden schleifenden Armen, mittags bei der Arbeit wieder der korrekte Businessmanager im Anzug. Oder in meinem Fall, die ackernde Pixel- und Vektorensklavin
Während ich über solch heiklen Themen brüte, kommt der Zug an. Endlich aussteigen aus diesem Käfig gaffender Primaten, wenn wir schon bei der Evolution sind.
Montage lassen den kleinen Misanthropen in mir aufkeimen. Danke Darwin!

Beim Bäcker an der Ecke hole ich mir eine Brezel und Kaffee. Aus dem Radio schallt „ The Weekend“ von Michael Gray, und ich frage mich mit hochgezogenen Augenbrauen, welche Radiostation diesen Titel Montagmorgens spielt. Verarsch FM? Ein ironisches Augenzwinkern an die arbeitende Bevölkerung? Wenn heute nicht Montag wäre, würde ich das direkt witzig finden.

I can‘t wait for the weekend to begin...